Am Irissee
© (Alfred Becker 2016)
Er spürte ihre warmen Finger auf seinem nassen, grünen Rücken, - sanft, aber unnachgiebig. Ein zwiespältiges Gefühl, so zwischen willenloser Aufgabe und heftigem Widerstand. Beides birgt Gefahr in sich. Gebe ich auf, versteht sie es vielleicht als Hingabe. Versuche ich zu widerstehen, dann gibt sie vielleicht auf. Aber will ich das? Und wenn ich wollte, weiß ich denn, was wird? Ein Sprung zurück ins kalte Wasser wäre ungleich gewisser.
„Küss mich!“, hauchte sie. „Küss mich und tritt in meine Welt, Neptun!“ Ihre blutroten Lippen wölbten sich ihm entgegen, schwollen an und formten sich zum rubinenen Herzen, aus dessen dunkler Mitte, einem Brunnenschacht gleich, das Innerste warm atmend nach außen quoll. „Schau mich an! Ich bin es, die Prinzessin. Ich, die Prinzessin der Erde. In meiner Welt beugen sich bunte Blumen mir zum sanften Teppich hin, biegen sich schlanke Bäume mir zum schattigen Laubengang, wachsen gelbe Weizenfelder mir zum köstlichen Naschwerk. Aus dem unendlichen Reich der Luft, Erbgut meiner den Morgen kündenden Schwester Aurora, bringen flinke Vögel mir neue Kunde von meinem geliebten Land. Küss mich und tritt in meine lichte Welt! Ich will dir meine geheimsten Schätze zeigen. Ich hole dich ins traute Tal zwischen den weißen Rosenhügeln. Von dort findest du ganz alleine den geheimen Gang hinab zur verborgenen Grotte der Lust! Finde Herberge an an meinem Herzen! Vergiß das triste Fontanien, deine wabernde Wasserwelt!“
Der atmende Brunnenschacht schloss sich mit einem sehnsuchtsvollen Seufzer und überließ Neptun sich selbst. Die Prinzessin! Und warum soll ich sie küssen, warum will sie mich kosen? Weil sie mich mit ihrem geliebten Spielzeug verwechselt, mit dem goldenen Reichsapfel, den ich gefunden habe? Welche Rolle spiele ich denn? Ich, Herr des Brunnens? Die bunten Blumen unterwerfen sich ihr als Teppich, die schlanken Bäume dienen ihr als Laubengang, der gelbe Weizen wird ihr zu süßen Küchlein und die flinken Vögel schwingen sich als ihre diensteifrigen Boten in die Lüfte hinauf. Welche Rolle muss ich in ihrer Welt spielen? Soll ich fortan etwa im Schatten der Bäume über Blumen laufen und Kuchen essen? Und dann diese Vögel! Dauernd flattert einer neben dir her und hat eine Botschaft von dem oder von der. Und kaum ausgerichtet, wartet der flinke Flieger nervös auf deine artige Antwort, um sich damit empor zu schwingen. Da kommt schon der nächste angeflogen, eine Lachmöwe. Gut für jeden Ulk! … Mein Botenvogel? Ich würde mir einen Papagei wünschen. Der plappert mehr als ich ihm erzähle. - Diese Vorstellung belustigte ihn.
Neptun an Papagei: ‚Papperlapapp!’ Over and out!’
Papagei an Prinzessin: ‚Papperlapapp, papperlapapp, papperlapapp, papperlapapp, pap …!
Wahrscheinlich, gab er sich zu bedenken, wahrscheinlich wäre ich gar nicht der Nutzer all ihrer dienstfertigen Kreaturen, der bunten Blumen, der schlanken Bäume und der flinken Vögel. Wahrscheinlich bin ich doch nur der Benutzte, so benutzt wie jene?!
„Küss mich und sei mein Prinz, Neptun!“ Das rubinene Herz zitterte erwartungsvoll, und aus dem Brunnenschacht strömte ein süßer Hauch herauf. „Sei der mächtige Mann an meiner Seite. Halte herrlichen Hof mit mir. Du wirst der Größte sein! Der Schönste! Alle blicken auf zu dir! Alle beneiden mich um dich!“ Ihr Zeigefinger glitt selbstverliebt über seinen breiten, wulstigen Nacken. „Berate mich bei Tag und schlaf in meinem Lustgarten bei Nacht. Du darfst dir wünschen, was immer du magst, und wann immer du’s willst, und es wird dir gewährt. Deine Tristesse ist zu Ende. Es gibt keinen labenden Leckerbissen, den dir meine Köche nicht bereiten würden, keinen werten Wein, den dir mein Kellermeister nicht ausschenken wollte, und da ist keine meiner Gespielinnen, die dir ihre gutgelaunte Gesellschaft versagen wollte. Sei kein Frosch, Neptun! Küss mich!“ Gerade jetzt, als er der Aufforderung folgen wollte – sie hatte die Augen fest geschlossen –, gerade jetzt schwebte eine Botschaft herein, gekrächzt von der Krähe, - gerade jetzt! Und der Brunnenschacht öffnete sich, um unwirsch eine schroffe Antwort auszustoßen, mit der sich der schwarze Botenvogel emporschwang.
Sein Blick wanderte vom rubinenen Herzen über dem dunkelen Brunnenschacht hinauf zu ihrer stupsigen Nasenspitze, weiter den runden Nasenrücken hinauf bis hin zur Nasenwurzel, der sanften Mulde also, die den Übergang zu ihrer sorgenfaltenfreien Stirn bildete. Von dort zu den Augen, die klar und blau wie zwei Bergseen im Sonnenlicht glitzerten. Er entschied sich für den See links von der kuscheligen Mulde und rutschte bäuchlings hinab zum unteren Lid. Da stand er nun vor dem dichten Wimperngestrüpp, hinter dem der azurne Irissee liegen musste. Mit rudernden Armbewegungen teilte er das haarige Buschwerk, von dem schwarze Tuschfarbschuppen herabrieselten und sich auf dem Lidrand häuften. Die Wimpern schlossen sich hinter ihm. Und da leuchtete er auf, der strahlendblaue See. Sein Blick wanderte zum gegenüberliegenden Ufer mit dem dunklen Wimpernbewuchs am rosafarbenen Lidsaum. Was für ein Strand! Er könnte hinüberschwimmen, wenn da nicht die schwarze Pupille wäre, der unergründliche Mahlstrom zwischen Scylla und Charybdis. - Er hatte diese wuchtigen Verse schon oft gehört – in seinem Reich galten sie fast als Nationalhymne – und murmelte sie nun vor sich hin: “Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp, zu tauchen in diesen Schlund? Einen goldnen Becher werf’ ich hinab, verschlungen schon hat ihn der schwarze Mund. Wer mir den Becher kann wieder zeigen, er mag ihn behalten, er ist sein eigen.“
„Schiller!“ Er schaute zu Boden; dort zwischen den Schuppen lugte eine kleine, grün-graue Milbe hervor, sorgsam darauf bedacht, vier ihrer acht Beine im sicheren Versteck zu lassen. „Der Taucher!“ ergänzte die Spinnenbeinige. „Der hat es gewagt! Nun spring du, wenn du wissen willst, wie sie dich sieht.“ „Will ich das wirklich? Der Dichter sagt doch: ‚Da unten aber ist's fürchterlich, und der Mensch versuche die Götter nicht, und begehre nimmer und nimmer zu schauen, was sie gnädig bedeckten mit Nacht und Grauen.’ Ist das die Sache wert?“ „Spring doch!“, drängte die winzige Räuberbraut. „Du willst doch wissen, ob sie dich liebt, oder?“ „Den Preis des Wissens um den Preis des Lebens? Nun denn: So treibt's mich, den köstlichen Preis zu erwerben, und stürze hinunter auf Leben und Sterben.“ Der Ankömmling dort am Lidrand starrte gebannt in das unschuldige Blau des Sees. Ja, er würde springen.
„Gut gelernt, mein Freund!“ lobte Milbe. „Ist keiner, der sich hinunter waget?’- Also, was zögerst du noch?“
„Mein Sprung, – wird der ihr nicht Schmerzen bereiten?“
„Das geht ins Auge, klar“, ulkte Milbe, „aber nicht in deins. Und nun spring schon!“
Ihm war, als ob ihn der Zeigefinger auf seinem Rücken zurückhalten wollte. Aber er sprang doch. Das Blau schloss sich über ihm, und langsam, ganz langsam sank er durch die gallertartige Flüssigkeit hinab. Es war hell genug, um die Umgebung zu erkennen, wenn auch der regelmäßige Lidschlag die Szene immer wieder ins Dunkel tauchte. In dem Lichtkegel, den die Linse auf den faserigen Boden warf, spiegelte sich die Prinzessin. Sie schien kopfzustehen, doch das sollte sich nach und nach ändern. Und noch bevor sie tatsächlich auf ihren zierlichen Füßen stand, hatte sie ihn da oben erspäht und winkte einladend zu ihm hinauf. Mit einigen geschmeidigen Schwimmzügen hielt er auf sie zu und sank schließlich auf den rosigen Boden der Netzhaut hinab.
Da stand sie nun, sie in einer feuerfarbenen Robe, und breitete ihre weißen Arme aus, um ihn zu empfangen. „Neptun! Mein geliebter Neptun!“ Seltsam, er sah sich nun neben ihr stehen, während er doch selber diese Szene beobachtete. Er dort, nun ein ganz in grün gekleideter junger Mann mit Orden und Ehrenzeichen und einer erdfarbenen Schärpe. „Mein Neptun, mein Gebieter,“ flüsterte sie, „ich will dich meinem geliebten Volk vorstellen. Die mutigen Männer sollen dich feiern, die friedlichen Frauen mögen mich beneiden. Lass uns gehen; möchtest du?“
Nein, das war keine Frage; eher ein Befehl, der klang wie: „Los Neptun, nun mach schon!“
„Ich bin gar nicht vorbereitet“, stöhnte er. „Was soll ich denn sagen?“
„Du brauchst nichts zu sagen. Alleine schon, wie du so edel und aufrecht dastehst, das wird sie begeistern!“
Und da war es wieder, das rubinene Herz, der Mund über dem atmenden Brunnenschacht. Es stand hinter den beiden, und er, Neptun, konnte beobachten, wie es allmählich seine herzige Form verlor, wie sich der Brunnenschacht zu einem breiten Grinsen weitete und dabei die Oberlippe in die Länge zog, so dass sie immer schmaler wurde. Dort am Grübchen unter der Nase wurde sie dünner und dünner, bis sie schließlich zerriß, wodurch die beiden Enden nach rechts und links auf den Boden geschleudert wurden. Platsch! Aus dem Mund war nun ein langer, roter Schlauch geworden, der erschöpft zuckend vor Neptun auf dem Boden lag. Dann aber nahm er Gestalt an und richtete sich, sanft hin und her schaukelnd, zur Hälfte auf.
Vor dem verblüfften Taucher wiegte sich eine rubinrote Schlange mit gespaltener Zunge, während die Prinzessin in der Feuerrobe mit dem Grüngekleideten an ihrer Seite vor das Volk trat.
‚Mein Gott, wie linkisch der ist!’
Neptun sah sich um. Wer redet denn da? Kein Zweifel, das war die Schlange, die eben noch ein herzförmiger Mund gewesen war. Die Prinzessin hob gebietend die Rechte, mit dem Zeigefinger gen Himmel deutend, der sich als durchscheinende Pupille – also der Himmel aus ihrer Sicht – über ihnen wölbte:
„Meine lieben Landsleute, fromme Frauen, mutige Männer. Ich bin stolz und glücklich, euch heute meinen künftigen Gemahl, den Herrscher von Fontanien, vorzustellen: Prinz Neptun!“
Die Natter höhnte: Schlaft weiter, blöde Bauerntrampel, schaut nur nicht zu genau hin! Oh nein, wie er da rumhängt. Ein schlaffer, grüner Sack, sonst nichts.’
„So wie unser königliches Haus über Erde und Luft herrscht, so gebietet das seine über das Wasser und damit auch – weil das Wasser es löscht – über das Feuer. Auf diese Weise sind mit unserer Ehe die vier Elemente, Feuer und Wasser sowie Erde und Luft – die Essenzen also,– euch zum Segen glücklich vereint.
‚Herrscherin über Salamander und Undinen, über Gnome und Sylphen, was will ich mehr?! Und er, der lahme Lurch, ja er dient mir als Schemel, vor meinen beiden Thronsitzen, auf denen ich sitze. Alleine! Wenn nötig, lege ich mich quer über sie…‘, so übersetzte die rubinrote Natter die Ansprache. „Unter unserer gottgewollten Herrschaft stehen die Elemente nicht mehr gegen einander auf, sondern dienen uns in Eintracht und Harmonie. Damit wird auch Fontanien von unseren unveräußerlichen Werten profitieren. Es soll blühen, wachsen und gedeihen, uns allen zum Nutzen.“
‚Hört sich gut an. Sie glauben es, mir nutzt es. Ist doch gerecht verteilt, oder?’
„Der Prinz wird die Zierde unseres Staates sein, er der Erste unter Gleichen. Primus inter pares, wie wir, eure devoten Diener, zu sagen pflegen. Er möge euch ein leuchtendes Vorbild sein.“
Die Schlange ließ ihre gespaltene Zunge spielen: ‚Erst komme ich, dann kommt eine Weile nichts, dann gar nichts und dann vielleicht er. Vielleicht! Solange mein Auftritt von dem seinen ablenkt, mag es gehen. Aber Vorbild? Das packt er nicht! Der nicht! Und das ist auch gut so!’
„Er ist ein erfahrener Staatsmann, dessen weisen Rat ich zum Wohle unserer beiden ruhmreichen Völker einholen werde, so wie ihr ihn in Zukunft zu eurem Nutzen erbitten dürft! Für heute aber nehmt bitte mit meinen Worten vorlieb.“
‚Das Maul wird er halten, da sorg ich für! Was er sagt, ist nichts als Quark! - Quark! Quark! Quark! – Getretener Quark wird breit, … nicht stark! ’
„Mein Prinzgemahl wird alles daransetzen, euren Wohlstand zu schützen und zu mehren!“
‚Wenn es mein Wohlstand ist, soll’s genug sein! ’
„Ich erflehe, euch zum Wohle, Gottes Segen: …
‚Religion ist Opium für das Volk. Aber auch für ihn, da neben mir… Macht sich doch gut, wenn’s Frauchen fromm tut. An meinem Wesen soll die Erd’ genesen!’
„Und so beten wir: Vater unser im Himmel, geheiligt werde …“
‚Unsere Prinzessin der Erde, gepriesen werde… Klingt besser, und so sollen sie es lernen!’
Sie schloss ihr Gebet mit der Formel: „…denn dein ist das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit …“
‚Mein ist sein Reich, … dank seiner Dämlichkeit’
Ob Schlangen lachen können? Diese konnte es. Sie wand sich vor Lachen und verschwand in einer bläulichen Ader. „Ich danke dir!“, rief Neptun ihr nach.
Noch bevor das „Amen!“ ausgeklungen war, suchte auch er das Weite. Weg aus diesem See der bitteren Einsichten, weg von dem stinkenden Sumpf schmerzhafter Peinlichkeiten. Über ihm schimmerte bläulich Uvea, die Regenbogenhaut, Reich der Göttin Iris. So wie diese das Geschehen da draußen nach innen bringt, so sollte doch man zwischen der peripheren Ziliarzone und der zentralen Pupillarzone – kurz: zwischen Iris und Pupille - von hier innen nach außen gelangen können! Aber kein Durchkommen. Schon bei dem Versuch juckte es dem Auge derart, daß es einem riesigen Handrücken befahl, über das Lid zu wischen. Der Druck presste den Taucher in den inneren Augenwinkel, dort wo die Nasenwand steil hin zur Stirn aufsteigt.
Ein Rauschen! Ein Bach? Ein Fluß? Ja doch! Da schau nur! Der traurige Tränenkanal! Das ist der ersehnte Weg in die lichte Freiheit! Er glitt in das Wasser, das ihn zum Tränensack trug. Von dort trieb es ihn weiter bis hin zum Tränenpunkt, wo schon das Tageslicht herein dämmerte. Hier, wo die beiden Lider aufeinander zulaufen, hier preßte ihn eine hygienebewusste Träne an die Außenwelt. Er blinzelte. Wirklich, da vor ihm der blaue Irissee, eingerahmt vom schwarzen Wimpernwald. Da hinten war er eingetaucht in das unergründliche Gewässer.
„Na, mein guter Freund?!“ Milbe, die treue Seele hatte auf ihn gewartet. Und Milbe deklamierte: „Er atmete lang und atmete tief, und begrüßte das himmlische Licht. Mit Frohlocken es einer dem andern rief: ‚Er lebt! Er ist da! Es behielt ihn nicht! ’ „Soweit der Dichter. Sag an, mein Lieber: Sahst Salamander, Molche und Drachen sich regen im furchtbaren Höllenrachen?“
Neptun überlegte: „Wie ich schon sagte: ‚Der Mensch begehre nimmer und nimmer zu schauen, was gnädig die Götter bedeckten mit Nacht und Grauen’. Besser könnte ich es auch nicht sagen.“ – Er berichtete von dem, was die Prinzessin gesagt und – glaubt man der Schlange – so bei sich gedacht hatte. Er schloss mit den Worten: „Ja, liebe Freundin, es hat mir – wenn du so willst – die Augen geöffnet.“
„Du hast also – bleiben wir in dem Bilde – etwas eingesehen, also eine Einsicht gewonnen.“
„Das kann man so sagen“, bejahte der Taucher.
„Du hast also etwas erkannt, also eine Erkenntnis gewonnen.“
„Das sagte ich doch schon.“
„Sehen und Erkennen sind zweierlei Ding! Nicht alles was du siehst, erkennst du auch. Um es zu deuten, muss dir ein Licht aufgehen. Und das, mein Freund, wäre in letzter Konsequenz die Erleuchtung.“
„Das klingt nach Buddhas achtteiligem Pfad!“
„Ist es auch! Erster Teil, die rechte Erkenntnis. Und von der gewinnst du – zweiter Teil – die rechte Gesinnung, aus der als dritter Teil die rechte Rede entspringt.“
„Das heißt, auch die Schlange hätte die Falschheit der Rede erkannt, wäre darüber empört und hätte folglich das Richtige gesagt, und die – ähm, na ja, – die – ähm … Prinzessin hätte gelogen?“
„Auch Sagen und Meinen sind für manche zweierlei Ding! Jedenfalls, wenn sie nicht dem edlen Pfad folgen. Denk daran, mein lieber Freund, der rechten Rede folgt, als vierter Teil des Weges zur Erleuchtung, das rechte Handeln …“
In eben diesem Augenblick fuhr die Prinzessin, die auf dem Brunnenrand im königlichen Lustgarten hockte, mit ihrer rechten Hand – mit der linken hielt sie den Reichsapfel umklammert – über das juckende Augenlid und riss ihn fort vom Irissee. Er spürte ihre warmen Finger auf seinem nackten Rücken, - sanft, aber unnachgiebig.
„Küss mich!“, hauchte sie. „Küss mich und tritt in meine Welt, Neptun!“ Ihre blutroten Lippen wölbten sich ihm entgegen, schwollen an und formten sich zum rubinenen Herzen, aus dessen dunkler Mitte, gleich einem Brunnenschacht, das Innerste warm atmend nach außen quoll. Aber ihr Mund ähnelte der Schlange, und ihre Zunge schien gespalten. Und der Hauch roch giftig.
„Schau mich an! Ich bin es, die Prinzessin. Ich, die Prinzessin der Erde. In meiner Welt beugen sich bunte Blumen mir zum sanften Teppich hin, biegen sich schlanke Bäume mir zum schattigen Laubengang, werden gelbe Weizenfelder mir zum köstlichen Naschwerk. Aus dem unendlichen Reich der Luft, Erbgut meiner den Morgen kündenden Schwester Aurora, bringen flinke Vögel mir neue Kunde von meinem geliebten Land. Küss mich und tritt in meine lichte Welt! Ich will dir meine geheimsten Schätze zeigen. Ich führe dich ins traute Tal zwischen den weißen Rosenhügeln. Von dort findest du ganz alleine den geheimen Gang hinauf zum rauschenden Rosenquell! Finde Herberge an meinem Herzen! Vergiss das triste Fontanien, dein trübes Reich!“
Er erinnerte sich an die rote Natter: ‚Mein ist sein Reich, … Dank seiner Dämlichkeit’.
Und dann die Rosenhügel, der Ort zum Ausruhen und Vergessen. Er kannte diese Worte nur zu gut. Was wäre das für eine Gesinnung, wollte er die Heimat der Rosenhügel wegen verraten?! „Das ist die rechte Erkenntnis. Jetzt ist das rechte Handeln gefragt. Jetzt!“
„Küss mich!“, hauchte sie. „Küss mich und tritt in meine Welt, Neptun!“ Ihre blutroten Lippen wölbten sich ihm entgegen, schwollen an und formten sich zum rubinenen Herzen, aus dessen offener Mitte zwei Reihen perlweißer Schneidezähne, von spitzen Eckzähnen bewacht, aufblitzen.
„Nein, ich werde dich nicht küssen! Ich bleibe der, der ich bin!“ Neptun nahm seine ganze Kraft zusammen, und mit einem gewaltigen Satz sprang er von ihrem gewölbten Handteller über ihre runde Schulter hinein in den grünen Teich unter der stolzen Fontaine. Mit kräftigen Bewegungen strebte er von der Stelle fort, wo er in der frühen Morgenstunde den goldenen Reichsapfel im seichten Wasser erblickt hatte.
Ich lasse mich treiben. Dies ist mein nasses Reich. Wie herrlich frisch und frei das Wasser ist. Hier bin ich Lurch, hier darf ich’s sein!
Der Froschkönig, - endlich war er zurück in seinem Element.
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