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 Dengelschling

Oder: Kein schöner Land in dieser Zeit
Alfred Becker, La Gomera 2000)

Ein Lied aus alten Zeiten,
ja, das geht mir aus dem Sinn,
kann’s leider nicht behalten,
I ain’t my father’s kin ...

Es war einmal – ein wenig ist es das auch heute noch – ein schönes, stolzes Land. Ja, ein blühendes Land war es. Daran hatten Kriege, Systeme oder Seuchen nichts ändern können. Auch kein Gemetzel, ob es nun sechs, sieben oder dreißig Jahre gedauert hatte. Kein verdammenswertes System, über braune elf oder rote vierzig Jahre Dauer. Keine „Englische Krankheit“, kein Franzosenkraut, keine Vogelgrippe und erst recht keine „Schweinegrippe“.

Dort die "alte deutsche Burg am alten deutschen Fluss", wie man sie einst rühmte. Ihre Wehrtürme blickten majestätisch über die bestellten Äcker und Weinberge hinweg, schauten auf die groben Tische und kratzigen Strohschütten der Gehöfte des kleinen Weilers und schweiften schließlich hinüber zu den behaglichen Patrizierstuben der alten Hansestadt. Im Schatten der Wehrtürme sannen die Denker, reimten die Dichter, klagten die Sänger, fiedelten die Musikanten. Sie wachten über den Lastenkahn auf dem Strom, über das Fuhrwerk auf der Handelsstraße, über Bürger, Bauer, Magd und Knecht und gewährten den verwünschten Pfeffersäcken Zuflucht in Zeiten der Not.

Solche Zeiten kamen und gingen. Eifernde Ritterheere mit bloßem Schwert und frommen Kreuz auf blankem Schild, brandschatzende Söldnerhorden, bunte Bataillone mit schweren Mörsern und rauchenden Haubitzen, uniformierte Armeen mit berstenden Bomben und splitternden Granaten. Schlimmer, meinte man jedes Mal, könne es nicht kommen. Und zurück blieb stets eine geduckte Burg, die aus ihren leeren Fensterhöhlen in den grauen Himmel starrte. Verrußte Mauern und verkohlte Balken, erschlagen die starren Körper der vergeblich Schutzsuchenden. Und doch, immer wieder ein neuer Morgen, und immer noch steht sie am Strom der Zeit und blickt majestätisch über die Lande. Über den Bahnhof des Kaisers, über das Parlament der Bürger und die Bank der Rothschilds, über die Schulen der Jugend und die Rathäuser der Alten.

Die Glaser arbeiteten eben noch an den geborstenen Fenstern, die Dachdecker warfen einander die roten Ziegel zu, hinauf bis zum spitzen First der hohen Halle, damit das eichene Gebälk nicht verfaule und die wertvollen Fresken nicht vollends verblassen, - da kommen sie in ihren Hawaiihemden und Jeans, Baseballkappe auf dem Kopf und Kamera um den Hals, Fraulein – wenn nicht darling wife – im Schlepp: “How much is the Burg? Not for sale, you say?! Bullshit! Money buys everything!”

Die Burg war stolz darauf, dass man sie begehrte. Natürlich würde sie den Antrag nicht annehmen. Und natürlich auch nicht die Bürger, die Männer und Frauen mit ihren Kindern, die an schönen Tagen zu ihr heraufkamen. Auch nicht der pensionierte Dorflehrer, Rainer Teutsch, der zunächst die Fremden führte und so schön vom Reichsgrafen Warmund zu erzählen wusste. Auch nicht sein Kollege Wortwalt, Autor des renommierten Werkes „Lexikon der Burgen und Schlösser“.

Aber als Rainer nicht mehr den Berg herauf wandern konnte – ja, die Hüfte –, kam der junge Teutsch, Heinrich Teutsch. „Henry W. Teutsch, Tourist-Guide“ stand auf dem Schildchen an seinem Sweatshirt. Auf dem Rücken prangte das Logo „Authentic Heritage” in weißen Lettern.

Natürlich gab er eine Pressekonferenz zum Einstand, ein briefing, wie er es nannte. Ein Highlight sei das Castle, tönte er, obwohl es ja von unten angestrahlt wurde. Er plane einen Castle Souvenir Shop mit Fast Food Point (All-you-can-eat), ein Outdoor Reading Event im Tower Museum – Easy Literature vom Feinsten –, alles buchbar per Castle Club Chip Card. Ferner solle ein Fund Raising gestartet werden, und als „Thank you“ dann ein Castle Candlelight Dinner für die Sponsoren. Von der Burg und ihrer Geschichte schwieg er. Und auch von Warmund – das hätte die alte Burg verstanden – erzählte er nichts. Aber dies?
Ob sein Vater dabei sein werde, fragte ihn ein Reporter. „Mein Dad? For Heaven’s sake! Der nicht. No way! Die Hüfte, you know.“

Mit Henry’s Guided Tours hatte es begonnen. Zunächst hatte niemand auf die kleinen, giftgrünen Schlingpflanzen geachtet, die sich an der Burg hochrankten. Erst als kräftige Winden den Turm umschlangen und ihre tastenden Tentakel sich in den morschen Mörtel der alten, feuchten Fugen bohrten, als die sternförmigen Blüten aufbrachen, rot-weiß-blaue Blüten, da wurde Henry W. Teutsch, International Tourist-Guide, auf sie aufmerksam. „Hey Folks“, rief er, „das ist doch smashing!“ ... und er sollte Recht behalten.

Henry W. Teutsch hieß eigentlich Heinrich Wilhelm, ein ganz unmöglicher Name für einen International Tourist Guide! „Nennt mich einfach H.W.“, bat er seine Freunde, und die riefen etwas, das wie „Ätsch Dabbelju“ klang. Der erhoffte Strom internationaler Touristen – Amerikaner, Japaner, Chinesen und Eskimos – blieb trotz all der Globalität nur ein Rinnsal, nichts im Vergleich zu Rainers Zeiten, wo die Amis noch ihre Ruinen bestaunen konnte: „We did a pretty good job, didn’t we?“

Aber die Bürgerinnen und Bürger des Landkreises bewunderten ihn, den Ätsch Dabbelju. Das fühlte er. Er hatte eben Sexappeal, fanden die Frauen; ein Power-player, meinten die Männer. Und Henry W. war es, der als erster einen Zweig der geilen Burgranke ins Tal brachte, wo er sie beim Elterhaus – jetzt profitables ‚Holiday Wellness Center’ mit einem geräumigen Penthouse Bachelor Apartment für ihn, Ätsch Dabbelju, – in den heimischen Boden bohrte. Der schlanke Steckling wurzelte schnell, schoß giftgrün auf, überwucherte den altehrwürdigen Namen Teutsch nebst dem Familienwappen, und schon im nächsten Frühjahr färbten die Sternblüten die schmucke Fassade des Elternhauses rot-weiß-blau. Die Leute aus dem Ort kamen und staunten, zwackten schlanke Ableger ab und schmückten die stolzen Giebelseiten ihrer Wohnhäuser. Die Leute waren begeistert. “Just smashing!“ wie Henry W. Teutsch sagen würde.

Einige Alte betrachteten die rot-weiß-blauen Häuserzeilen und schüttelten den Kopf. Es war Wortwalt, Rainers früherer Kollege, emeritierter Rechenlehrer und Hobbybiologe, Verfasser des Burgenlexikons, der warnend die Stimme erhob. In einem langen Aufsatz, den keine Zeitschrift zum Druck annehmen wollte, führte er aus, dass es sich um die Wucherpflanze Dengelschling handele, und zwar in einer extrem wucherfreudigen Unterart, ihr botanischer Name (bot. lat.) Germanglia vulgaris, aus der Familie (bot. lat.) Amisma multiflora periculosa. Diese Pflanze, meinte Wortwalt zu wissen, überwuchere alles, töte die heimische Vegetation nicht nur durch Unterdrückung, sondern mehr noch durch Vermischung, wobei sich Dengelschling stets als die dominante Art erweisen werde. So könne sich die Germananglia vulgaris beispielsweise mit jedem gemeinen norddeutschen Grünkohl, mit jedem Münchner Radi und mit jeder Berliner Knallerbse kreuzen, wobei nach zwei oder drei Generationen ein Quantensprung erfolge, zurück zur transatlantischen Mutterpflanze, der Amisma multiflora, in ihrer strukturell genetisch bedingten, ambivalenten Transformation einer omni-resistenten Amisma globalae. Besonders gefährlich seien ihre halbreifen BSE-haltigen Früchte. Sie enthielten höchst suchtererregendes Basic Simple English.

Hier mischte Albe sich ein, Schulmeister und welterfahren. Ja, er habe von der Droge gehört. Sie werde unter dem Namen Cultikill gehandelt, werde in irgendwelchen Bananenstaaten des United Foods hergestellt und führe bei Dauerkonsum zum progredienten Hirntod. Da aber wenige an ein immanentes Hirn glaubten, besuchten sie weiterhin unbesorgt Papst Leo in der Kirch und dann im Sky-Himmel, wiederkäuten Unverdautes und buchten – better safe than sorry – Holiday in Alzheim , all inclusive, nebst Peacebox Voucher für den „dead but happy case“.

Wortwalt wurde zum beliebten Gesprächspartner in Botanikerkreisen. Ein schrulliger Alter, dessen verknöcherte Ansichten man mit der Bemerkung abtat, die Pflanzenwelt habe sich ständig verändert, man denke nur an das Franzosenkraut, das heute keine Rolle mehr spiele. Wortwalts Bemerkung, dass dies das Resultat des unverzagten Zupfens zahlloser örtlicher Kleingärtner der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ sei, überhörte man geflissentlich. Learning by doing! Klar doch. Man würde Wortwalt wieder einladen, ein ’Botanisches Quartett’ installieren, man werde das Pflanzenwachstum beobachten (OPGRO = Operation Plant Growth) und wissenschaftlich begleiten, Entartungen aber mittels BRP (Back to the Roots Program) bei der Wurzel packen. Gegebenenfalls sollten Anglicide eingesetzt werden, meinten Wortwalt und seine Jünger. Doch die Botaniker widersprachen: „Nein, Kollege Wortwalt, das muß die Pflanzenwelt schon selber regeln. Sie sehen doch an Kasus und Flexion, dass sich Dengelschling an die endemische Flora anpasst!“ Dass dies aber, wie Wortwalt argwöhnte, Folge einer genmanipulatorischen Intervention sein könne, wiesen die Pflanzenkundler als übelste Form der Diskriminierung eines Gewächses mit Migrationshintergrund empört zurück.

Inzwischen hatten nicht nur die örtlichen Geschäfte, die sich nun Shops nannten – der Touristen wegen, so die gelegentliche Entschuldigung –, sondern auch die Bahnhöfe, Banken und Versicherungen Dengelschling mittels Kletterhilfen an ihren blanken Marmorfassaden empor ranken lassen. In ihren Service Points standen kleine Vasen mit Denglischkraut und Dengelstengeln auf jedem Counter, auf jedem Desk, jene Selbstkreuzungen, vor denen Wortwalt so eindringlich gewarnt hatte.

Andere – so auch der politisch stets unkorrekte Schulmeister Albe – malten noch furchtbarere Menetekel an die Wand. Selbst die aufrechten Bürger von einst, nun gestandene Weltbürger, seien nun auf dem Wege nach McWorld. Ja, McWorld, das sei die Import-Export Group, Ltd. für Amisma multiflora-products. Dabei würden sie, die Bürger, immer flacher. Kein Bürger mehr, sondern Burger mit teigigem Äußeren und klopsigen Innenleben. Fettig. Stapelbar. In Eigenheimen aus Styropor – eines wie das andere. One way Behausungen. Und statt der Würstchen von einst (Brat-, Weiß-, Rost- oder Ross-, Wiener-, Frankfurter- oder Nürnberger-, Braunschweiger-, Bremer-, Thüringer- oder Krainer-Würstchen, um nur einige zu nennen) würden dem Angebot an Burgern nun zwei Sorten uniformer Hot Dogs beigesellt, die in global-grauem Wrapper (eine Art Zeitungspapier) verpackten als „Under-Hot-Dogs“ und die im rot-weiß-blauen Cover als „Top-Hot-Dogs“, letztere original aus McWorld’s Own Country. Nicht einmal seinen eigenen Senf werde man in Zukunft dazugeben dürfen. Am Ende sei eine Mustard-Bastard Einheitssoße der Marken Holly&Wood und Monsainto verbindlich vorgeschrieben.

Es werde viel Ketchup fließen, meinte der alte Schulmeister. Ja, sehr viel Ketchup!
„Miesmacher, Nörgler, Nazi!“ hielt man ihm und anderen Bedenkenträgern entgegen, eine Keule, die jeden Kritiker erschlägt. Alles werde sich schön demokratisch entwickeln. Aus dem überholten „Pott un’ Pann“ werde - dank McWorld - „Food an’ Fun“. Dazu gebe es als Softdrink „Coke an’ Joke“. In der ‚Fun Society’ brauche keiner mehr etwas selber zu machen. „Ja, eine Spaß-Fraß-Gesellschaft, über die schließlich ein Burger King regiert!“, wetterte Albe. Und es sollte nicht lange dauern bis zu Burger Kings Inthronisation, von der die bunten Wappenschilder auf kirchturmhohen, Dengelschling berankten Masten kündeten. Und aus den Lautsprechern darunter dröhnte die Burger King’s global hymn: „Power to the Whopper!
”Don’t worry, be happy.”
„Wow! Wow! Whopper!“

Bei happy dachten viele an das ‚Happi’ ihrer Kindheit, an Häppchen also. Und so verkehrt war das nun auch wieder nicht. McWorld sei Dank.
„Wow! Wow! Whopper!“

Whopper und Dengelschling gehören einfach zusammen. Ohne Dengelschling kein Whopper Feeling! Ohne Feeling kein Fun. Ohne Fun nichts auf der Pfanne. Und schon gar nichts drin.
„Dengelschling für alle!“, forderten die Gewerkschaften.
„Dengelschling als Pflichtfach an Baumschulen!“, forderten die Lehrerverbände.
„Dengelschling als Uferbepflanzung für den Mainstream!“, forderte der Integrations¬beauftragte.

„Home & Garden“, das Lifestyle Magazin für den eigenen Garden Plot (‚Kleingarten’ hieß das bei den Eltern) gab ausführliche Kulturanweisungen. Und bald schon bildete man einen Verein, den „Dengelschling Fan Club“, kurz DFC, der das Journal als Vereinszeitung – sorry, ‚Club Mag’ sagen sie – nutzte. Seinen Mitgliedern, den „Fun-Fans für freshes Feeling“, stand das Bad im Mainstream offen, - nur ihnen. Exclusively!

Da war zwar der alte Bach – im Volksmund scherzhaft der „Johann-Sebastian“ – doch der plätscherte nur noch leise. Böse Zungen unkten, McWorld habe ihn mit Rock und Rolling Stones verstopft, um illegales Bewässern unerwünschter Kulturpflanzen zu verhindern. Aber es gab sie noch, die heimlichen Borne, um anderes Gewächs als die Amisma multiflora zu tränken. So den Lindenbaum beim Brunnen vor dem Tore zum Beispiel. Oder das Heideröslein und den blau blühenden Enzian. Aber auch die Tulpen aus Amsterdam und die weißen Rosen aus Athen.

McWorld’s Antwort war das Musikill, ein Nervengift, das mit seiner geschmacks-verändernden Wirkung sogar den „Burgchor“ zu den „Castel Quire Singers“ und den „Warmund-Kirchen¬chor“ zu den „Vocal Gospel Swingers“ mutieren ließ, während sich die „Liedertafel“ auflöste und als grauer Schaum vom Mainstream weggespült wurde. Beide, Singers und Swingers, wollten nun, unterstützt von den Cheer Leaders (hervorgegangen aus der früheren Volkstanzgruppe) liebevoll einen eigenen Wagen, ein parade float, für die kommende Love Parade gestalten, großzügig gesponsert vom Burger King. Als gemeinsame Hymne wählten sie: “Where have all the flowers gone“, wobei ihnen die traurige Realität des Liedes gar nicht bewusst wurde. Bei dem „When will they ever learn?“ klatschten Albe und Wortwalt laut Beifall, und die Leute schüttelten den Kopf. „Cranky ol’ men“, spottete Ätsch Dabbelju.

Zu der Zeit erhielten einige verdiente Bürger des Ortes verdächtige Briefe, unter anderem der Bibliothekar Lessing, der Geheime Oberrat Goethe und ein gewisser Medicus Schiller, ferner die Nachfahren des beliebten Landesherrn, des Burggrafen Warmund. Beim Öffnen rieselte ein grünliches Pulver aus den Kuverts, das den Empfängern in die Nase stieg und sie zum spontanen Erbrechen reizte. Es warf sie auf den Diwan, west-östlich den einen, nord-südlich den anderen. Ja, es war ein Mordanschlag mittels BSE! „Bad Simple English“, ein Substrat, das man aus Dengelschling gewinnt. Albe, der sich aus Ab-Neigung mit linguistischen Substraten befasst hatte, definierte den Stoff als Mittel zum kontakt-induzierten Wandel der Muttersprache durch migrierende Phoneme, Lexeme und Morpheme.

Gut, die Betroffenen überlebten mit Müh und Not, wurden aber irgendwie sonderbar. Man sprach von ihnen – wenn man überhaupt noch von ihnen sprach – mit einem spöttischen Unterton:
„Lessing? - Who is that? Der ist ein loser!“
„Goethe? Der hatte was mit der Stein. Total out!“
„Schiller? Ein nobody!“
Der tote Burggraf allerdings erlebte nach vielen hundert Jahren nun seine Auferstehung, die allerdings als „Earl-Burger“, ein Burger Special mit französischem Blauschimmelkäse. Noblesse oblige. Auf Wunsch mit Ketchup.

Wortwalt vertrat die Ansicht, das Attentat gehe auf das Konto von McWorld, während Albe die Übeltäter unter den Lehrern wähnte. Vermutlich die Germanisten. Wenn die Jungs schon die klassischen Werke nicht kennen, geschweige denn verstehen, dann weg mit deren Verfassern. Bücheverbrennung? Nein, danke! Das wäre ja Nazi. Aber der reaktionäre Müll gehöre in die Tonne! Das sei ökologisch korrektes, biodynamisches Recycling.

Ach ja, die Opfer, Goethe und so? Nun, man verbrachte die betroffenen Honoratioren in das Sanatorium ‚St. Alzheim’ und vergaß sie dort schlicht und einfach. Computerfehler.

Es geschah an einem Spätsommertag, frühmorgens, als Ätsch Dabbelju sein Penthouse-Apartment verlassen wollte. Er vernahm ein leises Knirschen, Risse taten sich auf. Fahle Luftwurzeln bohrten Löcher durch die auf Hochglanz gelackte, perlweiße Decke. Carfinish, sauteuer! Die Wände, Ytong, wurden eingeschnürt, nach innen gedrückt. Ziegel stürzten herab, gefolgt von Balken, getoppt von dem Storchennest aus Genuine Plastic©. Ganz zum Schluß, denn sie war auf dem Türmchen des Penthouse-Apartments verankert, breitete sich eine rotweißblaue Fahne über den Trümmerhaufen. „Wow, ich bin dead!“ staunte Henry W. Teutsch und ergab sich in seine traurige Lage. „Shit happens!“ Er schaute sich um. Unter sich der Laminatboden, über sich die Bruchstücke der hand¬gesprayten Deckenverblendung, Lack, perlweiß, Hochglanz. Balken und Ziegel darüber. Vielleicht 15 Zentimeter Raum zwischen Deckenbruch und Laminat.
„OK, Ich bin tot! Such is life! Aber...“

Er spürte einen Niesreiz. Kalkstaub rieselte durch den Hochglanzbruch direkt in sein linkes Nasenloch. „Tote müssen doch nicht niesen?!“ wunderte er sich und nieste. Nein, er war nicht tot, davon hatte er sich überzeugt. Er war flach geworden, ein zuckender Flachburger, der ohne größere Probleme durch den Trümmerberg der Wohnung und über die verschüttete Treppe hinab flutschen konnte, hin zur geborstenen Haustür, und durch den Briefschlitz hinaus ins Freie. Vom schuttübersäten Vorgarten aus sah er die Bescherung. Die kräftige Dengelschling¬winde hatte sein Elternhaus erdrückt. Einfach so. Er ballte sich vor Wut zur Boulette: „So wahr ich Heinrich heiße …“ schwor er. Weiter kam er nicht. Und wer war er eigentlich? Henry, d.h. Ätsch Dabbelju, wie ihn heute alle wunschgemäß nannten? Oder Heinrich, wie schon Opa und der Ur-Ur-Opa hießen? Jetzt unter Efeu.

Von seinem Platz auf der Zuwegung seines Elterhauses, konnte man auf den Ort hinab blicken.Von dorther kam nun das krachende Geräusch berstender Mauern und abstürzender Dächer. „Slow motion!“ staunte Teutsch jr., als er den Kirchturm langsam in sich zusammen¬sinken sah. Er konnte beobachten, wie sich die Dengelschling¬winden ein paar Meter über dem Boden zu einem gewundenen Seil verbanden, das sich zusammenzog und die grauen Wände in halber Höhe nach innen drückte, er sah, wie sich die Mauerkrone zum Trichter formte, ein großes Maul, das die Kuppel verschluckte und durch diesen gewaltigen Happen barst, ja explodierte. Der goldene Wetterhahn auf der kupfergrünen Turmspitze versuchte ungläubig, seine angestammte Höhe zu behaupten, krähte einen finalen Protest in den smogverhangenen Himmel und versank als letzter in der aufstiebenden Staubwolke.

Wenig später erlebten die örtlichen Banken und Versicherungen ihren Crash, verursacht von den kleinen Dengelgewächsen in den Blumentöpfen, die ‚Goldman & Friends’ verteilt hatte – ein Crash, auf den die Wall Street mit einem dramatischen Kursanstieg reagierte. Tokio und Frankfurt zogen nach. Big Bang am Stock Market, der Bulle war losgelassen, der Bär war verstummt. London und Paris verhielten sich zunächst abwartend. You never know! Euro und Dollar liegen gleichauf. Das stimmt die Anleger positiv. Ja, aber was bedeutet das, wenn beide im freien Fall nur der Schwerkraft gehorchen, so wie der Wetterhahn auf der Kirchturmspitze? Hätte der wohl geglaubt, er falle nicht, nur weil er ebenso schnell oder langsam fiel wie die blau-weiß-rote Fahnenstange, die mit der Dachkrone des Rathauses in die Tiefe stürzte? Nein, so dumm sind Hähne nicht. Selbst die Wetter- und die Wasserhähne nicht!

Dass die Schule zusammenbrach und ganze Klassen, Schüler und Schülerinnen nebst Lehrern und Lehrerinnen und dem zwecks Visitation anwesenden Oberschulrat zu normierten Flachburgern presste (BurgerInnen gibt es nun mal nicht), ja davon nahm die Börse keine Notiz. Genaugenommen war es ja ein Gewinn. Zwar waren alle dengelbewachsenen Bauten zusammengestürzt, aber die nun Obdachlosen passten problemlos in Burger King’s ‚One-Way-Styrofoam Box’. Und Burger King hatte 1.000.000 hübsche Schachteln bereitgestellt. Modell Uncle Tom’s Cabin. Man brauchte nur die Buns und Pattys herauszunehmen und die Dressingreste aufzuwischen, und schon war Wohnraum geschaffen. Home! Sweet home! Und das zu wahrhaft annehmbaren Preisen. Aber nicht alle waren bereit, in diese Notunterkünfte zu ziehen, obwohl sie ihr Leben lang „Equallity Now“ gefordert hatten. Und weil sie damit großen Eindruck auf die Flatburger gemacht hatten, stellte man ihnen – oder vielleicht auch sie sich selbst – die ‚Super Size King Box’ zur Verfügung.

Albe, der – ebenso wie Wortwalt – Haus und Garten dengelfrei gehalten hatte, war von der Katastrophe verschont geblieben. Aber war dies noch seine Stadt? War das seine Heimat, wo alles von Dengelschling erdrückt zu werden drohte? Wo die Schwarzäugige Susanne und selbst der spröde Rotdorn und der wuchernde Goldregen unter blauen, weißen und roten Sternblüten verschwanden –, mochte er dort noch leben? Auswandern?
„Keine Lösung“, befand Wortwalt. „Wir müssen dem Problem begegnen, indem wir unsere Flora verteidigen, wenn es auch hoffnungslos scheint. McWorld ist überall. Also müssen wir überall kämpfen!“
„Aussichtslos. Aber ich halte meinen Garten frei, so wie du. Vielleicht ist unser Vorbild ansteckend“, meinte der Schulmeister. Aber er konnte daran nicht so recht glauben.

Am Abend dieses denkwürdigen Tages brach sie zusammen, sie, die als letzte standgehalten hatte, Warmunds alte Burg. Nein, kein großes Getöse. Zunächst fiel die Zugbrücke. Dann wankten die ehrwürdigen Hallen. Ein Bröseln und Bersten. Ein leises Ächzen der Balken, als sie sich bogen, ein Stöhnen, als sie brachen, ein Seufzen, als sie am Boden lagen. Zuletzt die Wehrtürme. Ein Schutthaufen aus über 1000 Jahre Geschichte. Der Schweiß ungezählter Leibeigener, die Planung unbekannter Baumeister, die heroische Abwehr ungezählter Verteidiger, die liebevolle Zuneigung längst verblichener Burgfrauen zu ihren Kindern. Und zu dem Minnesang fahrender Sänger, wenn die Ritter in die Schlacht gezogen waren. Die Traktate des Junkers Jörg, der hier sein Tintenfass gegen den Teufel geschmissen hatte. Die Fahne, mit der junge Studenten in den Krieg ‚fürs einig Vaterland’ gezogen waren. Über all das schloss sich das giftige Grün der schlanken Amisma mit ihren rot -weiß-blauen Sternblüten. Die biegsamen Äste des Dengelschlings waren den stürzenden Steinen gefolgt, hatten über den Trümmern zueinander gefunden, begruben die Vergangenheit. Endlich ein Ende. Nichts mehr hinderte den freien Burger-look auf McWorld, keine Häuser oder Paläste, keine Kirchen, keine Burgen. Und schon gar keine Heroen der lokalen Geschichte! Wenn sich einmal die Staubwolken verzogen haben, ist da … einfach nichts. Nur weiße Styrofoam Boxes mit dem ‚Burger King Logo’. Freier Blick von der sieglosen Siegessäule bis zum unfreien Befreiungsstatue.

„Ground zero!“ ging es ihm durch den Sinn. Albe hockte auf einer der alten Haubitzen, ein schweres Rohr aus Eisenguß, mit dem man einst einmal die ‚theure’ Heimat verteidigt hatte. Später ließ man eine Kanonenkugel in der Mündung festschweißen, damit keiner auf den dummen Gedanken käme, solchen Unsinn auch nochmals zu unternehmen. Weltoffen wollte es sein, Wermunds Volk. Weltbesoffen war es geworden, McWorld’s Burger. Albe kramte den alten Weltempfänger aus seinem Rucksack hervor. Er hatte ihn lange nicht eingeschaltet, weil man auf allen Wellen ohnehin nur das gleiche hörte. Aber da war noch der Kurzwellen¬sender einer kleinen deutschen Urwaldsiedlung am oberen Amazonas. Quietschend, pfeifend und brummend meldete sich die Station. Den Wortfetzen war zu entnehmen, dass die Siedlung Blumenort der Rinderfarm einer Fastfood Kette weichen solle. King Burger. Man erwäge die Rückwanderung nach Deutschland. Dann spielten sie „Kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das unsre weit und brei..ei..t, wo ...“ Bei „breit“ versagten die Batterien. „Weit und breit, das kommt hin. Und flach, sehr flach!“ Der alte Schulmeister rutschte vom Kanonenrohr, als Wortwalt herankam. Sie gingen zurück dorthin, wo einmal die Stadt gestanden hatte.

Wortwalt und Albe stolperten über die verschütteten Straßen hin zum Marktplatz. Vielleicht brauchte man jetzt Hilfe, - gebraucht hätte man sie schon lange, klar. Aber vielleicht würde man sie jetzt endlich annehmen. Vielleicht? Aber nein. Die Burger hatten sich der neuen Situation freudig angepaßt, Burgers adjusted. Viele Flachburger hatten die sauberen Burgerpacks bezogen, Single und Family Flat Packs, bunt bedruckt mit den Sternblüten der Amisma. Andere waren in ihre zusammengebrochenen Häuser gekrochen und fanden diesen neuen Bungalowstil viel praktischer als die viel zu hohen Zimmer an einem viel zu hohen Treppenhaus. Und die Top Dogs hatten endlich ihre ‚Super Size King Box’ beziehen können.

Die beiden Alten, Albe und Wortwalt, waren zum Elternhaus des Henry W. Teutsch hinaufgestiegen, um nach dem alten Rainer zu schauen. Aber zu schauen gab es nichts mehr. Im Fortgehen trat Wortwalt auf einen Flachburger. Der quietschte leise „Ätsch Juuuuu.“ Der teigige Laib war plattgetreten, an den Rändern quoll matschiges Hackfleisch heraus, Ketchup sickerte darunter hervor, blutrot. Henry W. Teutsch lag im Rinnstein. Später sollten seine Freunde kommen, um ihm – wenn sie ihn nicht fanden, was abzusehen war – mit einem „Don’t worry, be happy!“ ein letztes Fare Well zu bereiten. „Wow! Wow! Whopper!“
„Be Happie!“ krächzten die Krähen und äugten aus dem Gewirr der Dengelschlingzweige hinab aufs leckere Häppchen, das da unten für sie lag.

„Es war kein Zufall, dass ausgerechnet du ihn breitgetreten hast!“ meinte Albe.
Aber Wortwalt zuckte mit den Schultern: „Statistisch gesehen haben alle Senkrechtbürger die gleiche Möglichkeit, auf einen Flachburger zu treten.“
„Solange es noch Bürger gibt. Senkrechte, meine ich.“
„Statistisch gesehen dürfte es keine senkrechten Bürger mehr geben, “ erwiderte Wortwalt.
„Nun, “ meinte der Schulmeister, „dann wäre dies also ein Burgersteig. Gehen wir lieber auf der Straße weiter.

Die beiden stolperten über Stock und Stein, Balken und Ziegel, hin zur Innenstadt. Ein geknickter Wegweiser, City Center, wies in die Richtung, wo früher das Rathaus gestanden hatte. Sie schritten über abgebrochenes Dengelschlinggeäst und Amismawurzeln, die bereits neu austrieben. Dabei machten sie einen Bogen um die zahllosen Schattengestalten der ‚Auf-der-Strecke-Gebliebenen’. Nein, es gab weder Höhen noch Tiefen, alles war gleich. Dem Erdboden gleich. Glob-egal, wie es schien.
„Ich hoffe, dies ist ein schlechter Traum!“, stöhnte Albe.
“The American Dream, mein Freund“, erwiderte Wortwalt.
„Mein Gott!“ stöhnte Albe. „The new frontier, das sind wir!“
„Not far from home“, grinste Wortwalt. „Auf gut deutsch: Ziemlich genau das!“

Drüben, aus einer Ruine quäkte ein vergessenes Radio. Ein Weckerradio! Sie spielten etwas von Bach. Dann eine Sprecherin:
„Sie hörten die Kantate ‚Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu Dir’, Bachwerkeverzeichnis 131. Und nun heißen wir Sie willkommen zur Sendung ‚Ground Zero Germany’. Nach den tragischen Ereignissen der letzten Tage bringen wir nun einen Beitrag zur Rekultivierung unseres heimischen Biotops und geben Fingerzeige zur Nachzucht vergessener endemischer Gewächse. Wir beginnen die Reihe mit dem Johanniskraut (Hypericum perforatum), das wegen seines Gehalts an MAO-hemmendem Hypericin stimmungaufhellende Wirkung hat, was in dieser Zeit wohl bitter notwendig ist. Es ist eine ausdauernde Pflanze, die viel Sonne liebt. Wegen dieser Eigenschaften sollte es weitflächig angebaut werden. Die üppig wachsenden Pflanzen brauchen einen Abstand von ca. 30cm… sandigen Boden … Bezug über die Samenbank …“

Wortwalt räusperte sich und schniefte, mehr brachte er, der „Talkshow Star“, nicht heraus.
„Ich fasse es nicht!“ murmelte Albe und vermied es, Wortwalt anzublicken. Irgendetwas war ihm ins Auge geflogen.

Preisgekrönte Kurzgeschichte, Landschreiber 2014
"Mit Sprache über Sprache".
Beiträge zum Landschreiber-Wettbewerb Leipzig,
hg. von Klaus Siewert und Jochen P. Becker, 490 S.,
gebunden, 2013, ISBN: 978-3-939211-60-0

 

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