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Dikjen-Deel (Sylt)
(Alfred Becker)

Wann war das noch? 1954 vermutlich, damals, als ich noch das Martino-Katharineum in Braunschweig besuchte. Noch, weil sich das nach jenem Erlebnis änderte.

Wir drei Neuntkläßler des MK waren als Gruppenführer für die Bauchbeißer der fünften Klassen eingeteilt und rollten in dem eigens für den Transport zusammengestellten Sonderzug nordwärts. Verantwortlich für unsere Schule war ein Studienrat und Doktor der Philossophie mit den Fächern Englisch und Deutsch, ein Mann, der nicht gerade für einen schülerfreundlichen Umgangston bekannt war.

Unser Zug war von der Art, die damals schon museumstauglich gewesen wäre. Der Waggon öffnete sich an beiden Enden zu einer Plattform hin, so wie sie einst amerikanische Präsidentschaftskandidaten für ihre Wahlstops an Wildwestbahnhöfen benutzten. Natürlich standen wir Häuptlinge auf dieser luftigen Kanzel, - vielleicht rauchte auch einer. Wir fuhren! Was für ein Erlebnis! Kaum einer von uns hatte je das Meer gesehen, wohl aber manches Buch über Seeabenteuer, Schiffsjungen und große Fahrt gelesen.

Nach einiger Zeit kam einer unserer Schutzbefohlenen heraus und krähte: „Die Idioten sollen zu Herrn Dr. B… kommen!“
„Sag ihm, hier gibt es keine Idioten!“
Der Kurze dreht um und kommt sogleich darauf zurück: „Herr Dr. B… sagt, ich soll euch sagen: ‚Idiot’ ist aus dem Griechischen und bedeutet 'Privatmann'.“
„Wenn das so ist, dann sag ihm, daß er ein ‚Privatmann’ ist!“
Das war der Anfang einer langanhaltenden, innigen Feindschaft.

Unvergeßlich der Zwischenhalt in Hamburg. „Planten un' Blomen“ mit der Lotosblume, gezogen aus uraltem Samen. Oder war es in jenem Jahr eine Hafenrundfahrt, nicht minder unvergeßlich? Das eine hin, das andere rück. Jedenfalls brach die Dunkelheit herein, genauer, es war stockfinster, als wir in Dikjen Deel auf Sylt eintrafen. Die Knirpse bauten ihre Betten auf dem Strohlager, und dann stapfte jeder, der mochte, die Düne hinauf. Die erste Begegnung mit dem Meer war von der ganz besonderen Art, war so, wie ich sie nie wieder erlebt habe. Von da unten rauschte es aus einem Lichtermeer zu uns empor. Unruhiges Neonlicht, so schien es, eine Großstadt mit ihrem brandenden Getöse, New York aus 1000 Meter Höhe. Oder was war das?

Was das war? Meeresleuchten, verursacht von kleinsten Organismen. Phosphorhaltig, hieß es. Nach dieser Nacht begannen die Reibereien mit Herrn Dr. B... Er scheuchte uns, er drohte uns, er zischte, wie man es von einer unfreundlichen Schlange erwarten würde. Mit zusammengekniffenen Augen und unbweglichen, schmalen Lippen: "Warte nur, ich mach Dich fert......" Der Rest verlor sich im Zischen.
Irgendwann an einem Nachmittag lag er hinter unserem Zelt, um dem zu lauschen, was wir über ihn dachten. Ich erinnere mich genau an die Worte, aber ich würde sie heute nicht niederschreiben mögen; eine erdachte Beleidigung des Vaters durch seine Tochter, die mit ihm angereist war. Armes Kind!
Der von uns Verhöhnte kam aus seiner Deckung. "Becker, Jürgens, Trezebiakowsky, jetzt gebe ich es euch! Und die Argumentation wurde handgreiflich. Beiderseits. Was er nicht wußte, ich übte mich zu der Zeit nicht ohne Erfolge im Judosport. Das Finale in diesem Falle war umwerfend! Sein letzter Konter: „Dich säge ich ab!“ Er klopfte den Sand von sich ab und verschwand im Schatten der Zelte.

Herr Freitag (Rangnächster zu dem großen Organisator, dem unvergeßlichen Bruno Pietsch aus Breslau) solle uns nach Hause schicken, forderte unser gedemütigter Oberhäuptling. Doch Herr Freitag sah das etwas anders, und so blieben wir, um die Insel zu erkunden, Sandburgen zu bauen, Helgoland zu erleben und der guten Dinge mehr.

Herr Dr. B… war unser Lehrer in den beiden genannten Hauptfächern. Zusammen mit seinem Lateinkollegen Männe M.- ein wahres Fossil und deshalb Unikum - brachte er uns zur Strecke. Wie versprochen: Abgesägt!
Nun folgt auf jedes Schuljahr ein neues, selbst, wenn man das alte wiederholen muß. Und siehe da, Deutsch und Englisch bei Dr. B…, Latein bei dem Fossil.

Am nächsten Tag stand ich im Sekretariat der NO und behauptete, mein Vater habe mich hier angemeldet. Natürlich fand man keine Unterlagen dafür. Aber weil die Schule gerade den Neubau an der Hans-Sommer-Str. bezogen hatte, wähnte man meine Meldung in einem der Umzugkartons und schickte mich in eine 9. Klasse, wo Herr Dr. Zepernick gerade über den Papst und seine Verlobte lästerte.
„Was willst du denn hier? Du bist der fünfzigste in dieser Klasse; dich säge ich ab!“
Das kannte ich irgendwie. Aber ich lachte auch noch bei dem dritten Auftritt von der Papstverlobten und ergrinste mir damit mein Verbleiben an der Schule. Das MK war damit Geschichte. Eine unvergeßliche!

Herrn Dr. B… zum Trotz bin nun ich auch ein Dr. B… Genauer, „PD. Dr. phil. Becker, StD. i.R.“ mit den Fächern Deutsch, Englisch und darüber hinaus (der Nächstenliebe willen) auch Religion. Mögen sich die Ähnlichkeiten darin erschöpfen.

Dikjen Deel bleibt das unvergessene Zeltlager der Schüler (und der von ihnen unvergessenen Schülerinnen) aus den 50er Jahren; ein Traum von Wellen, Strand und Sonne.
Schöner als jede Urlaubswonne heute an fernen Küsten.
Es genügte doch schon, wenn man eine Schöne küßte!

Ein Denkmal nach mehr als 60 Jahren

Kein Wikipedia-Eintrag erinnert an ihn, aber mit den von ihm organisierten Fahrten in den 50er Jahren (1948 – 1959) hat sich StR. Bruno Pietsch, damals „Mathelehrer“ an der Neuen Oberschule in Braunschweig, ein Denkmal im Herzen von wohl ein paar tausend Schülerinnen und Schülern gesetzt. Die Nachkriegsgeneration. Eine Zeit, in der sich nur besonders Begünstigte einen Urlaub – vorzugsweise Camping in Bella Italia – leisten konnten, wo oft die Eltern (wenn nicht gar der Vater „im Krieg geblieben“ war) es nur bis „Balkonien“ schafften.
Da bot Studienrat Pietsch den Jugendlichen das unbeschreibliche Stranderlebnis an, Sylt, freier Strand soweit das Auge reicht, sofern es nicht vor FKK zu Boden schauen mußte, um nun zu blinzeln. Da waren Strand, Sand, Wind und Wellen. Dort machtest Du den Grundschein der DLRG, bautest Sandburgen oder ließest Dir von der ausgeguckten Person den Rücken eincremen. - Nein, einölen, das war angesagt. Abends dann Lagerfeuer im Dünental. „Kein schöner Land in dieser Zeit, ….“ oder „So legt Euch denn, ihr Brüder …“ „… und unsren kranken Nachbarn auch!“ So manche Romanze mag hier in der Zeltstadt begonnen haben. So manche Freundschaft auch. Und eine lebenslange, wärmende Erinnerung.

Und zur Ertüchtigung der Schülerschaft seiner Schule gründete Organisator Pietsch einen Ruderverein, bestückte ihn mit mehreren Ruderbooten, die in einem von ihm finanzierten (und von uns miterbauten) Bootshaus lagen, und allesamt mit ihren Namen an verlorene ostpreußische Städte erinnerten.

Für diesen festen Anker im rasenden Strom der Zeit danken wir Ihnen, Herr Studienrat Pietsch!
Anerkennung und Respekt!

Hansi Weich hat dem nun ein Denkmal gesetzt:

„DIE GESCHICHTE VON DIKJEN-DEEL“

Herausgeber: Hansi Weich, Liebermannstraße 15, 38159 Vechetde,
Tel. 05302 – 2431; E-Mait: familie.weich@web.de
lSBN-Nr. 978-3-9824571-0-9

 

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