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Das Erwachen der Glasharfe

Sie hockten unter dem Wurzelwerk der alten Weltesche, der uralte Albe und seine erst 300 Jahre alte Enkeltochter Fee; vor ihnen, auf dem niedrigen Tisch, ein dicker Foliant mit alten Schriften auf Pergament. Ein Kienspan sorgte für flackerndes Licht und mollige Wärme. Die Kleine deutete mit ihrem Zeigefinger auf ein Wort.
„Opa, was ist ein Äon?“
„Ein Äon? Tja, wie erkläre ich das? Es ist…, also ich sage mal: ein Weltzeitalter ist das.“ „Und was ist ein Weltzeitalter?“
„Ich hab es geahnt“, stöhnte der Alte und lehnte sich behaglich zurück, so wie immer, wenn er etwas zu erzählen hatte. „Ein Weltzeitalter, das ist die Zeit vom Anfang bis zum Ende der Welt. Verstanden?“
„Ich glaube, ja. Aber wie lange dauert das?“
„432000 Jahre, das ist zwar länger als du lebst, Feechen, aber genau so oft schlägt mein Herz in nur 12 Stunden. Egal, 432000 ist eine heilige Zahl, und die kann durch 128 andere Zahlen geteilt werden. Auch durch die 72, unsere magische Zahl. Und das 6000-mal. Aber das ist nicht alles.“
„Erzähl doch, Opa. Erzähl bitte“, quengelte Fee. „Erzähl, bitte!“

„Nun, so ein Äon geht nicht einfach zugrunde, nur weil es alt ist,“ begann Albe, „Es sind die Frostriesen, die von Norden kommen, um die Sonne zu vernichten.“
Er stand auf und öffnete die eichene Kiste, auf der er gesessen hatte. „Ich hatte doch??!, ich hatte doch?!!, ah, da ist sie ja!!!“ Er fischte ein Päckchen aus dem dunklen Gemenge hervor, klappte den Deckel zu und setzte sich wieder. Behutsam befreite er seinen Fund von der braunen Lederhülle, und vor ihnen lag eine knöcherne Platte, in die ein Bild hinein geschnitzt war. „Schau einmal her,“ sagte er, obwohl das völlig unnötig war, denn Feechen berührte den Fund fast schon mit ihrer Nase, so neugierig war sie.

„Schau mal, das sind die Frostriesen!“ Er legte seinen Zeigefinger auf einen Trupp hochgewachsener, mit Schilden und Schwertern bewaffneter Männer, die von links heran rückten. „Und das,“ sein Zeigefinger wanderte auf die runde, gelb bemalte Fläche im Zentrum, „das ist die Sonne. Um die geht es ja. Die Riesen wollen sie vernichten, damit sich der Frost über die Erde legen kann. Das versuchen sie Jahr für Jahr, Winter für Winter. Die Tage werden kürzer und kürzer, die Sonne versinkt beinahe in ein dunkles Grab. Aber die Götter stehen ihr bei. Dank deren Hilfe ist sie unbesiegbar. Sein Zeigefinger wanderte hinüber zu dem Bogenschützen. „Schau mal, das ist Egil, der der Beste mit Pfeil und Bogen! Er steht hier in der Burg der Götter. Von hier aus verteidigt er die Sonne und damit den Sommer.“ „Und die beiden Nackedeis über und unter der Sonne, was ist mit denen? Sind die tot?“

Albes Zeigefinger kreiste von den Frostriesen – „Das ist der Winter“ – zu dem Schildträger über der Sonne – „Das ist der Frühling“ – weiter zum Schützen – „Das ist der Sommer“ – weiter zum Schildträger unter der Sonne – „Das ist….“
„… der Herbst!“ jubelte Fee. „Und dann kommen die Frostriesen wieder!“
„Wenn du genau hinschaust, siehst du, dass sie Probleme haben. Zwei sind verwundet, und der Große, der mit dem Speer, wird von hinten angegriffen. Das ist die Wintersonnenwende. Und deshalb feiern wir die Auferstehung der Sonne in der geweihten Nacht, in der Weihenacht.“
„Ärgert das die Frostriesen?“ „Und ob! Bis zum Ende des Äons! Dann reißt sich der Fenriswolf los, der die Sonne verschlingen soll. Deine Ur- ur- ur- ur- ur - (wie viele ur- ur- ur -, das weiß ich nicht so genau) -großmutter hat das selber erlebt und als einziges Geschöpf auf der Welt auch überlebt. Elfe hieß sie.“
Albe füllte sein Trinkhorn mit duftendem, honigfarbenem Met und tauchte seine Nase hinein. Dann blickte er nachdenklich, so, als schaue er in eine ferne, versunkene Welt.
„Das Ende kam mit der dunkelsten Nacht jenes Jahres, so dunkel, dass selbst die Schneemassen schwarz zu sein schienen. Das Heulen der Wölfe wurde vom Nordwind in die Welt getragen. Sturmböen schoben riesige Eisschollen auf das Land und stapelten sie zu langen Wällen auf; Barrieren, unüberwindlich für Menschen und Götter. Dann haben die Riesen die Burg der Götter erstürmt. Keiner entkam dem Kältetod, weder die Göttinnen und Götter, noch die Helden an ihrer Tafel. Keiner. Außer Elfe.“
„Elfe? Keiner sonst?“
„Keiner sonst!“
„Wie auch immer, die Frostriesen erschlugen alles Leben mit ihren Keulen aus Eis oder erstickten es unter Schnee, übersahen aber unsere Elfe…“
„Wie kam denn das? War sie unsichtbar? Und warum ist sie nicht erfroren?“ „Das sind ziemlich viele Fragen auf einmal. Nein, unsichtbar war sie nicht, und erfroren ist sie auch nicht. Und das kam so: Elfe war in eine Erdspalte hinabgestiegen, um in einer unserer vielen heißen Quellen zu baden. Sie wollte ganz sauber in das neue Jahr gehen.“ Albe blickte an sich herunter und klopfte mit einer Hand die Erdkrumen ab, die von der Decke ihrer Behausung, dem Wurzelwerk der Weltesche, herabrieselte.
„Ja, deshalb wurde sie übersehen, und deshalb konnte ihr der Frost nichts anhaben. Aber ihre Welt war untergegangen. Als sie aus der Erdspalte herauskletterte, war es stockfinstere Nacht. Kein Stern, kein Oben, kein Unten, kein Himmel, keine Erde, kein Windhauch. Nichts! Nur Eis, Eis, Eis. Vorsichtig tastete sie sich voran.“

Der Großvater verstummte und hing seinen Gefühlen nach; nein, eigentlich waren es Elfes Gefühle, denen er folgte. Kein Weg, kein Steg, kein Schimmer am Horizont, nicht einmal ein noch so schwacher Windhauch. Kein Atem, keine Seele. „Opa“, flüsterte sein Kindeskind. Und dann nochmals: „Ooopa?!“ „Ach ja, keine Seele weit und breit, kein Hauch, kein Schimmer. Kein Anfang, kein Ende. Kein Alfa, kein Omega. Das Chaos verschluckt von der Finsternis. Wer weiß, wie lange sie herumgeirrt war, bis sie an jene Stelle kam, wo sie unter dem Eis ein schwaches Glimmen wahrnahm. Und genau an dieser Stelle versperrte ein Eisbarren ihr den Weg. ‚Das ist die Sonne!’ flüsterte sie, so leise, als könnte sie die Gefangene verraten. Sie stützte sich auf den Eisblock, der vor ihr lag, - der Riegel vor dem Gefängnis der Sonne. Tränen schossen ihr in die Augen; dicke, heiße Tränen tropften auf das Eis und schmolzen Trichter hinein. Trichter neben Trichter, jeder ein wenig kleiner als der vorherige. So entstand, wie es schien, eine Reihe von Kelchen, säuberlich neben einander aufgestellt.
Von ihrem Tränenfluß ganz entkräftet, sank Elfe neben dem Eisblock zu Boden, unter ihr die gefangene Sonne. Ihre Körperwärme schmolz etwas von dem Eis, auf dem sie lag. Sie war unendlich müde. Und es schien ihr nun, als würde sie fliegen, so leicht war ihr. ‚Ich weiß, ich sterbe jetzt,’ ging es ihr durch den Sinn. ‚Aber ich weiß auch, wofür.’ Und wunderbare Sphärenklänge begleitete sie auf ihrem Heimflug.
Elfe starb, sie hauchte sie ihre Seele aus. Und damit kam der Hauch zurück in die Welt. Ein kleines Lüftlein nur. Aber davon erwachte der Windhauch, das Kind des warmen Südwindes. Und der schwebte über der Stelle, wo Elfe lag. Er strich über die zu Glas gefrorenen Kelche auf dem Eisbarren und ließ sie sanft erklingen. Er wärmte Elfe und fing ihre Seele ein, die sich zum Himmel empor schwang, und zwang sie zurück in den kalten Körper seines Schützlings. Und als Elfe erwachte, konnte sie es kaum fassen. Sie kniff sich in den Arm: ‚Aua! Ich glaube, ich lebe!’
‚Ja, du lebst,’ hauchte das Kind des Südwinds. ‚Und nun spiel mir die Glasharfe!’ Da stand sie nun vor ihr und glänzte im rötlichen Schimmer der gefangenen Sonne, eine Bank aus Eiskristall, und auf ihr die von Elfentränen geformten Kelche.
Sie hob ihre Hände, ließ sie sanft über die Gläser gleiten, und Sphärenklänge füllten den Raum, Klänge, die sie auf ihrem Heimflug begleitet hatten, Melodien einer anderen Welt. Die Musik rührte das Eis zu Tränen, die von den Schollen herab tropften und zu kleinen Rinnsalen zusammenflossen, um dann mit anderen Wasseradern zum Bächlein heranzuwachsen, zum Fluß danach und dann zum Strom. Da, wo Elfe die Glasharfe spielte, teilte er sich und ließ er eine Insel entstehen, um gleich dahinter wieder zusammenzuströmen, und um dann über jene Stelle zu fließen, wo das Mädchen gelegen und die Sonne gewärmt hatte. Das Wasser wirbelte jene Mulde auf, die Elfe mit ihrem Körper geformt hatte und grub sich durch Eis, Scholle um Scholle. Und das Licht der Sonne wurde heller und heller.
Es sollte sieben Nächte dauern, bis die so befreite Sonne blutrot zum Himmel aufstieg, um über dem neuen Äon zu scheinen, um Pflanzen und Tiere, Menschen und Götter zu erschaffen. Und Elfes Harfe wußte für jedes Leben ein Lied zu singen, und jedes Lied begleitet eine Seele durch dieses Weltzeitalter, in dem wir nun leben.“

Der Kienspan war weit herab gebrannt. Albe und Fee rollten sich in ihre Felldecken. Es war Nacht geworden. Draußen, über dem Wurzelwerk und auf den Zweigen der Weltesche lag der erste Schnee dieses Winters. Und der Wind spielte eine sanfte Melodie auf der Glasharfe.

Alfred Becker, Januar 2018 mit Dank an Susanne Würmell, die Glasharfee

 

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