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Meile 85
Rede an meinen Freundeskreis, anläßlich meines 85. Geburtstages im Januar 2023.
Früher ging es eher darum, ob man Lebensziele erreichte. Martin Luther formulierte es einmal so: „Wer mit 20 nicht schön, mit 30 nicht stark, mit 40 nicht klug, mit 50 nicht reich wird, der braucht hernach nichts mehr zu hoffen, denn Alter schützt vor Torheit nicht ... Mit 60 sagt er, wäre ich doch nur fromm geworden... Willst du alt werden, behalte den Kragen warm, füll nicht so sehr den Darm, komm der Grete nicht zu nah, also wirst du langsam grau.“ Wäre es so, bliebe nach dem 40. Geburtstag nicht mehr viel zu hoffen, für den Lehrer schon gar nicht, denn reich wird der von seinem Gehalt nie. Oder vielleicht doch? - Es kommt wohl darauf an, wie man rechnet. Wenn ein Mensch € 15.000 im Monat bekommt, dann ist er relativ reich. Wenn dieser Reichtum diesem Menschen aber nicht reicht, dann ist er ärmer als sein Nachbar, wenn dem € 1.500 reichen. Reichtum ist demnach die wunschlose Zufriedenheit. Das hat schon Diogenes so gesehen, denn auf die Frage des großen Feldherrn Alexander, was er für den im Faß vor ihm liegenden Philosophen tun könne, antwortete er: „Geh mir aus der Sonne!“ Gut denn. Dies betrifft den materiellen Wohlstand, und Luther hat natürlich andere Schätze als den schnöden Mammon für wichtiger gehalten. Aber von der Wolkenbank gibt es nun einmal keine Kontomitteilungen, demzufolge wäre meine Depotanalyse eher spekulativ. Also „weshalb zu den Sternen greifen, liegt das Gute doch so nah?“
Bleiben wir erdverhaftet. Friedrich Hebbel zog diesen Vergleich: Wenn das Leben ein Weg ist, dann ist der Wegesrand mit seiner Flora und Fauna, mit seinen Hütten und Häusern eben diese Schatzkammer. Wir müssen nur aufgreifen, um zu begreifen. Wir könnten diesen Weg entlang wandern, denn „Wandern macht bewandert“, wie ein Konstanzer Gymnasiallehrer unter dem Pseudonym ‚Peter Sirius’ schrieb. Aber wir können natürlich auch fahren statt ‚wandern‘, denn nach dieser Logik heißt es: „Fahren macht erfahren“, selbst wenn Erich Kästner zu bedenken gibt, daß erst seit der Erfindung des Autos das Ankommen wichtiger sei als der Weg. Das allerdings scheint auch das lokale Straßenbauamt so zu sehen. Und Papa Heuss, sagte es ähnlich: „Der Sinn des Reisens ist, an ein Ziel zu kommen, der Sinn des Wanderns ist, unterwegs zu sein.“ Das kann, aber muß nicht so sein. Ohne eine letztendliche Bestimmung wäre jede Fortbewegung planloses Umherirren.„Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt,“ schreibt Martin Buber. Ob wir es uns also eingestehen oder nicht, wir bewegen uns nun einmal auf dem Lebensweg über Etappen zu einem Ziel hin. „Destination Destiny“. Ich glaube, so ist der Weg das Ziel und umgekehrt. Ich vergleiche den Weg gerne mit der Landstraße; dabei sind Körper und Geist Auto und Fahrer. Bedenkt man, daß griech. 'autos' ‚selbst’ heißt, ist das gar nicht so abwegig. Ein solches Vehikel bringt, je nach Pflegezustand, den Fahrer an ein unbekanntes Ziel, wo er dann aussteigt und – das glaube ich – sich nach einem neuen Gefährt umsieht. Kaum auf der Welt, versuchen wir also das Fahrzeug zu steuern. Die Eltern fungieren als Fahrlehrer, aber bald schon brüllt das Kind: „Selber fahren, selber!!!“ Es heißt zwar, ein Kind sei ein Engel, dessen Flügel in dem Maße schrumpfen, wie seine Füße wachsen. Aber gerade für dieses Engelchen am Steuer erweist sich der Schutzengel als so notwendig – und er ist tatsächlich präsent, denn sonst wäre diese Tafelrunde kaum mehr als ein „Dinner for One“. So allmählich wird der Knabe mit dem Fahrzeug vertraut, legt Schultasche, Handy und Zigaretten dorthin, wo der Engel saß und ist überzeugt, daß er, nur er das Auto fährt. Mit der Morgensonne im Rücken probiert er aus, was die Kiste unter der Haube hat, das machen sie alle so. Aber bald schon gilt im übertragenen Sinne, was Rudolf Steiner sagte: „Aus der Art, wie das Kind spielt, kann man erahnen, wie er als Erwachsener seine Lebensaufgabe ergreifen wird.“
Da sind nun die einen, die eher bedächtig fahren,- ruhig und sicher, stets auf der richtigen Spur. Respekt, umso mehr als ich Probleme damit habe und streckenweise fahre, als hätte ich sieben Leben und ebenso viele Autos. Mein unsichtbarer Beifahrer muß wohl Engelsgeduld besitzen und himmlische Ruhe an den Tag legen. Jetzt, wo die Sonne tiefer steht, uns ein wenig blendet, schauen wir öfter in den Rückspiegel. Der Staub hat sich gelegt. Die Schlaglöcher sind vergessen. Unser Auto? „Der Lack ist ab!“ möchte man sagen. Damit können wir leben. Hinter uns liegt eine wunderschöne Strecke, die wir gemeinsam genießen durften. Habt Dank dafür, liebe Weggefährten. Jean Paul sagt: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ Recht hat er! Genießen wir also dieses Zusammensein, bevor die Fahrt weitergeht.
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